Stell dir vor, du gehst zur Arbeit – und dein Nervensystem atmet auf. Nicht, weil du dich zusammenreissen musst, sondern weil dieser Ort wirklich für dich gedacht wurde. Nicht als neurotypische Norm mit einem bunten Diversity-Sticker, sondern als Raum, in dem dein Denken, Fühlen und Arbeiten ernst genommen wird.
Der Tag beginnt ohne Druck. Kein schriller Wecker, kein morgendlicher Stau im Kopf. Du kommst an – zu Hause im Home-Office oder an einem Ort, der dich willkommen heisst, so wie du bist. Es gibt kein striktes 9-to-5-Korsett, sondern ein Gleitzeitmodell, das dir die Möglichkeit gibt, in deinem eigenen Rhythmus anzufangen. Vielleicht brauchst du morgens erst Zeit, um in den Tag zu kommen. Vielleicht startest du lieber früh, um mittags in Ruhe einen Rückzugsmoment einzubauen. All das ist vorgesehen – nicht als Ausnahme, sondern als Normalität.
In der Arbeitsumgebung selbst triffst du auf eine Architektur der Vielfalt. Räume sind unterschiedlich gestaltet: Es gibt Bereiche mit gedimmtem Licht, in denen Menschen konzentriert und reizarm arbeiten können. Daneben stehen kommunikative Zonen mit klaren Strukturen, in denen Austausch stattfindet – aber immer freiwillig. Wer Reize braucht, kann sich in einen aktiv gestalteten Raum zurückziehen. Wer Reize meiden muss, wird nicht schief angeschaut, wenn er oder sie Kopfhörer trägt oder Pausen öfter braucht.
Die Aufgaben, die dich erwarten, sind klar formuliert. Statt schwammiger Ansagen und spontaner Aufgaben-Hopping-Taktiken gibt es transparente Kommunikationswege, gut strukturierte Briefings und Verständnis dafür, dass nicht jeder Input sofort Output erzeugen muss. Meetings sind strukturiert und gut vorbereitet – und niemand erwartet, dass du deine Kamera einschaltest oder dich durch stundenlange Gespräche quälst, wenn du Informationen auch schriftlich besser verarbeiten kannst. Kommunikationsstile sind verschieden, und das wird nicht nur akzeptiert, sondern bewusst eingeplant.
Was in dieser Fantasiewelt fast schon banal wirkt, ist in der Realität leider oft die Ausnahme: Du wirst nicht misstrauisch beäugt, wenn du dich anders organisierst. Du musst deine Andersartigkeit nicht erklären oder rechtfertigen. Stattdessen begegnen dir Kolleg*innen mit der einfachen, aber kraftvollen Haltung: „Wie können wir den Raum gemeinsam so gestalten, dass du dich wohlfühlst?“ Es gibt eine Kultur des Fragens, nicht des Forderns.
Du arbeitest nicht gegen dich – sondern mit dir. Du planst deine Tage in deinem Tempo. Du darfst kreativ sein, dich zurückziehen, Hilfe holen, Verantwortung übernehmen, Pausen machen, Fokusphasen einrichten. Und vor allem: Du darfst ehrlich sagen, was du brauchst. Masking wird nicht erwartet. Stille wird nicht mit Desinteresse verwechselt. Reizüberflutung ist kein Zeichen von Schwäche.
Am Ende des Tages bist du vielleicht erschöpft – aber nicht, weil du dich den ganzen Tag verstellt hast. Sondern weil du etwas geleistet hast, auf deine Weise, in deinem Tempo. Ohne inneren Widerstand, ohne Dauerspannung. Vielleicht verlässt du deinen Arbeitsplatz mit dem Gefühl, nicht nur funktioniert zu haben, sondern wirklich gewirkt zu haben.
Diese Vision ist keine Utopie. Sie beginnt dort, wo Menschen bereit sind, zuzuhören. Sie beginnt bei Gesprächen, bei Experimenten, bei Fehlerfreundlichkeit. Und sie beginnt bei uns – bei dem Mut, uns selbst ernst zu nehmen und neue Räume zu entwerfen.
Diese Fantasiereisen sind mehr als nur Gedankenspiele. Sie sollen zeigen, wie unser Alltag aussehen könnte, wenn er wirklich neurofreundlich gestaltet wäre – nicht als Sonderlösung, sondern als Grundhaltung. Es geht nicht um Perfektion oder um schnelle Lösungen, sondern um neue Perspektiven. Um das bewusste Fragen: Wie würde sich dieser Ort anfühlen, wenn er mich nicht überfordern, sondern unterstützen würde? Jeder dieser Texte lädt zum Weiterträumen ein – aber auch zum Handeln im Kleinen. In den nächsten Teilen dieser Reihe besuchen wir weitere Lebensbereiche, die viele von uns tief prägen: Schule, Beziehungen, Zuhause, vielleicht auch das Gesundheitssystem. Und vielleicht wird aus diesen inneren Räumen mit der Zeit etwas ganz Reales.