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Warum ich jedes Jahr Kevin allein in New York schaue

Warum ich jedes Jahr Kevin allein in New York schaue

Es wirkt auf den ersten Blick banal, einen Film jedes Jahr erneut zu sehen. Doch Rituale entstehen selten zufällig. Sie erfüllen Funktionen, die tief in menschlichen Bedürfnissen verwurzelt sind: Orientierung, Identität und die Verankerung im eigenen biografischen Raum. Kevin allein in New York ist für mich genau so ein Ritual geworden – interessanterweise erst als junger Erwachsener, als ich meine Liebe zu New York entdeckt habe und der Film für mich zu mehr wurde als nur Unterhaltung.

New York steht in diesem Kontext weniger für die konkrete Stadt, sondern für ein Symbol: Verdichtung, Möglichkeit, Unruhe und gleichzeitig eine merkwürdige Form von Geborgenheit im Chaos. In der Pädagogik spricht man von ästhetischer Erfahrung – dem Moment, in dem ein äusserer Eindruck eine innere Resonanz auslöst und zu einer Art Selbstbegegnung wird. Genau diese Resonanz erlebe ich, wenn der Film die überzeichnete, fast märchenhafte Version der Stadt zeigt: das Plaza Hotel, das Rockefeller Center, die nächtlichen Strassen voller Lichter. Es ist nicht die Realität, aber eine ästhetische Verdichtung, die eine bestimmte Seite von mir anspricht.

Der Dezember ist für mich keine hektische Zeit, aber eine energetisch fragile. Wenn das Jahr sich seinem Ende nähert, werden die inneren Batterien schwächer, die Aussenreize lauter und die eigene Verarbeitung langsamer. In solchen Momenten wirken Rituale stabilisierend. Man könnte hier den Begriff der ritualisierten Selbstfürsorge verwenden – ein Konzept, das in der Bildungs- und Sozialpädagogik zunehmend an Bedeutung gewinnt. Es beschreibt Handlungen, die nicht bloss Gewohnheit sind, sondern Selbstregulation ermöglichen. Kevin allein in New York ist einer dieser stabilisierenden Punkte: Eine gleichbleibende Konstante, die keine Leistung von mir verlangt, sondern mich in einen vertrauten ästhetischen Raum zurückführt.

Mit der Zeit verschob sich mein Blick auf den Film. Was mich früher vor allem unterhielt, hat heute eine zweite Ebene. Die Figur der Taubenfrau, die Einsamkeit in der riesigen Stadt und die Wärme der Begegnung lassen sich gut mit der Theorie der narrativen Identität verbinden. Diese besagt, dass Menschen ihre Identität durch Geschichten formen – durch Geschichten, die sie über sich selbst, über andere und über die Welt erzählen. Der Film erzählt eine Grossstadterzählung über Einsamkeit, Hoffnung und Unerwartetheit. Vielleicht sehe ich mich darin wieder, weil auch ich in Städten nicht nur Orte, sondern Spiegel sehe: Resonanzräume, die mich gleichzeitig fordern und stärken.

Es ist denkbar, dass ich den Film jedes Jahr schaue, weil er mich an meine eigenen inneren Erzählungen erinnert. Vielleicht auch, weil er mir eine symbolische Reise ermöglicht, wenn die Energie fehlt, eine reale zu unternehmen. Oder weil er mich an die Bedeutung ästhetischer Bildung erinnert: an die Einsicht, dass Filme, Bilder und Geschichten nicht nur zur Unterhaltung existieren, sondern als Räume, in denen man sich selbst erkennt.

Und so ist das jährliche Ansehen zu einem stillen Gruss an mich selbst geworden. An die Seite von mir, die in der filmischen Version von New York Freiheit spürt. An die Seite, die ihre Kraft aus Räumen der Fantasie und der ästhetischen Erfahrung zieht. Und an die Seite, die inmitten der Ruhe des Dezembers ein kleines Stück urbane Weite benötigt, um sich wieder zu ordnen

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